Leseprobe: »Vom Sinn der Sinnlosigkeit«

»Du musst endlich loslassen!«

Ja, als wüsste ich das nicht selbst. Ich bedenke René mit einem genervten Seitenblick. In einer Situation wie dieser befanden wir uns in den letzten Monaten bereits unzählige Male. Mein bester Freund ist mittlerweile recht verzweifelt und macht sich Sorgen, das ist mir durchaus bewusst.

»Das ist nicht so einfach«, erwidere ich. »Ich weiß«, ist Renés geseufzte Antwort. Auch diese Worte sind stets die gleichen. Ändern tut sich nichts.

Aber hey: Er saß schließlich nicht zusammen mit seinem Freund im Auto, während dieser in einen verunfallten Lkw reingerauscht ist. Dass ich überlebt habe, grenzt an ein Wunder. Lediglich ein paar Schürfwunden habe ich davongetragen. Ricky dagegen starb noch am Unfallort.

Seitdem höre ich jede verdammte Nacht in meinen Träumen die Geräusche von berstenden Scheiben, reißendem Stahl und quietschenden Reifen. Selbst der Geruch überhitzter Bremsen und verbrannten Gummis verfolgt mich. Wenn ich mal zwei Stunden am Stück schlafe, ist das bereits viel. Immer wieder befinde ich mich in abstrusen Tagträumen, sehe Ricky vor mir, bilde mir ein, ihn zu hören, zu riechen.

Der Alkohol, der zum allabendlichen Begleiter geworden ist, hilft kaum beim Vergessen. Gerade greife ich zur Whiskyflasche, um mein Glas zu füllen, als René meine Hand festhält. »Jetzt lass den Scheiß. Hast du nicht inzwischen kapiert, dass das nichts bringt?«

Natürlich habe ich das, aber die Hoffnung, für wenigstens zwei Minuten nicht an Ricky und an das, was wir nicht mehr haben können, zu denken, ist stärker als die Vernunft. Vor allem, da mir René und Nils jeden verdammten Tag vor Augen führen, was mir genommen wurde.

Seit einem halben Jahr sind die beiden ein Paar, woran ich nicht unschuldig bin. Ich gönne es ihnen, das steht außer Frage. Doch die glücklichen Blicke, die sie sich zuwerfen, wenn sie denken, ich merke es nicht, zerreißen mich innerlich beinahe. Dabei will ich ihnen gar keine Vorwürfe machen. Zum einen möchte ich nicht, dass sie meinetwegen auf ihr Glück verzichten und zum anderen bemühen sie sich wirklich. In den letzten fünf Monaten hatten die beiden keinen Sex mehr in unserer WG. Das kann ich so genau sagen, weil ich weiß, wie sich René dabei anhört. In der Zeit vor Nils pflegten René und ich etwas, was man gemeinhin eine ›Freundschaft mit gewissen Vorzügen‹ nennt. Dass dieser Teil sofort endete, als die beiden es nach einigen Turbulenzen endlich schafften zusammenzukommen, war für mich selbstverständlich. Dass ich zu dieser Zeit außerdem Ricky kennenlernte, trug zusätzlich zur Beendigung unseres Arrangements bei.

 

Ricky hatte das Pech irgendwie immer magisch angezogen. Bereits unser Kennenlernen war dem Umstand geschuldet, dass er im Supermarkt stolperte, daraufhin versuchte sich am Einkaufswagen festzuhalten, und diesem damit einen kräftigen Schubs gab. Dies wiederum bewirkte, dass der Wagen mir schmerzhaft in den Hacken fuhr. Ricky war das unendlich peinlich. Er entschuldigte sich unzählige Male und fragte mehrfach, was er tun könne, um es wiedergutzumachen. Obwohl ich niemand bin, der sich schnell verliebt, hat mich dieser verpeilte Typ mit dem umwerfenden Lächeln sofort in seinen Bann gezogen.

»Ich mache alles, ehrlich«, hatte er noch einmal betont und ich stand ein wenig neben mir, als ich antwortete: »Dann geh mit mir essen, ins Kino und danach liebe mich, bis ich nicht mehr klar denken kann.«

Ricky stutzte und lachte gleich darauf. Gut, vermutlich wäre es besser gewesen zu behaupten, tatsächlich einen Witz gemacht zu haben. Schnell wurde er wieder ernst und sah mich prüfend an. »Was hältst du alternativ davon, wenn ich koche, wir einen Film bei mir gucken und …«

»Okay«, erwiderte ich sofort und Ricky erledigte im Eiltempo seinen restlichen Einkauf.

Kochen konnte er fantastisch und die Sache mit dem Lieben übertraf alles, was ich bisher in meinem Leben erlebt hatte.

Zwei Monate lang hingen wir praktisch täglich wortwörtlich aufeinander. Wir liefen gackernd wie kleine Kinder durch die Gegend. Es verging keine Minute, in der wir uns nicht küssten oder berührten.

An besagtem Abend waren wir auf dem Weg zu seinen Eltern, die mich unbedingt kennenlernen wollten. Ich war aufgeregt, doch immer wieder beruhigte Ricky mich. Seine Eltern wären sehr entspannt, was seine Sexualität anginge. Sie wollten lediglich, dass ihr Sohn glücklich sei.

Den Lkw, der quer über die Fahrbahn stand, bemerkten wir in der Dunkelheit beide zu spät. Ricky bremste, riss das Steuer herum und rutschte seitlich unter den Lastwagen. Vermutlich wäre er in diesem Moment noch mit einem Schleudertrauma davongekommen, doch bevor ich überhaupt realisieren konnte, was passiert war, spürte ich einen Aufprall. Rickys Auto wurde schwungvoll ein Stück weiter geschoben. Instinktiv machte ich mich klein, sodass ich nicht sah, sondern nur hörte, wie durch den Widerstand des Lkw der obere Teil des Wagens abgetrennt wurde, als wäre er aus Pappe. Was danach geschah, bekam ich nicht mehr mit. Ricky muss ebenfalls bereits ohnmächtig gewesen sein, denn laut den Berichten hatte er nicht mehr reagiert. Dass ich nur aus den Nachrichten weiß, dass er regelrecht geköpft worden sein muss, ist Fluch und Segen zugleich. Ich glaube, hätte ich das mit eigenen Augen gesehen, wäre ich inzwischen ob dieser Bilder wahnsinnig geworden. Die Schreckensszenarien, die mir meine Fantasie allerdings regelmäßig vorgaukelt, sind nicht besser.

 

Der eine oder andere mag jetzt einwerfen, dass zwei Monate nicht viel sind und ich mich sicher nur in etwas hineingesteigert habe. Doch wie ich bereits sagte, bin ich niemand, der leichtfertig sein Herz vergibt. Eigentlich ist es mir vor Ricky noch nie passiert. Er hat mich einfach vom Fleck weg umgehauen. Wenn einem so ein Mensch von einem Moment auf den anderen entrissen wird, hinterlässt das nun einmal eine Lücke, die nie wieder geschlossen werden kann.

 

»Bennett, bitte. Hol dir endlich Hilfe.« Mein bester Freund sieht mich bittend an.

»Was soll das denn bringen? Ricky ist tot! Das ändert ein bisschen Reden auch nicht«, erwidere ich genervt.

René atmet tief durch. »Das weiß ich. Natürlich wird er dadurch nicht wieder lebendig. Aber du könntest lernen, damit zu leben.« Ich schnaube und verschränke die Arme vor meiner Brust.

»Meinst du nicht, Ricky würde nicht auch wollen, dass du wieder Spaß am Leben hast?«

»Fang nicht so an.« Diese typischen Reden à la ›Ricky hätte doch bestimmt gewollt, dass …‹ kann ich nicht mehr hören. Es ist schlichtweg egal, was er gewollt hätte, er kann nichts mehr wollen.

»Aber so kann es doch auch nicht weitergehen. Du verlierst noch dein Stipendium, wenn du so weitermachst.«

Ich zucke mit den Schultern. »So ein Quatsch.«

»Kein Quatsch. Das weißt du genau.«

»Aha. Und woher willst du das wissen?«

»Von Tobias.« Hätte ich mir ja denken können, dass der Bruder von Renés Lover nicht die Klappe halten kann. Tobias und ich studieren zusammen und besuchen den einen oder anderen Kurs gemeinsam. Dass er über meine Situation so gut Bescheid weiß, war mir bisher jedoch nicht bewusst.

»Hört auf, über mich zu reden«, verlange ich kalt.

»Bennett …« René rückt an mich heran, legt einen Arm um meine Schultern und zieht mich an sich. »Bitte. Ich habe wirklich Angst um dich.«

»Ich bringe mich schon nicht um.«

»Leben tust du aber auch nicht.«


Dir hat die Leseprobe gefallen?

Das E-Book der Anthologie »Wenn es vorbei ist« (mit dieser Kurzgeschichte sowie weiteren von Karo Stein, Caro Sodar und Mia Grieg) ist erhältlich bei Amazon.